Wochenlang saßen Schülerinnen und Schüler nicht nur in Deutschland zu Hause und sollten dort den regulären Schulstoff lernen oder sich auf den Schulabschluss vorbereiten. Welche Folgen hatte das sogenannte Homeschooling? Werden Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Bildungswesen in der Corona-Krise besonders deutlich? Wir haben bei dem Soziologen und Bildungsforscher Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani nachgefragt.
Herr El-Mafaalani, wie schätzen Sie die Bildungssituation in der Corona-Krise ein?
Aladin El-Mafaalani: Ich finde es nicht nachvollziehbar, dass alle möglichen Bereiche schneller geöffnet haben als Kitas und Schulen. Beim ersten Shutdown wurden zuerst die Schulen geschlossen, sollte es einen weiteren geben, dann sollten die Schulen als letztes schließen. Wir hatten 6 Monate ohne regulären Schulbetrieb und wissen, dass bereits lange Sommerferien negative Auswirkungen auf die Lernentwicklung vieler Kinder aus benachteiligten Milieus haben können. Zudem wurden Kinder und Jugendliche auch in vielen anderen Bereichen, enorm eingeschränkt, denken Sie etwa an Sport, Musik, Kunst und andere Freizeitaktivitäten.
Denken Sie, dass Homeschooling, vor allem für Kinder aus bildungsferneren Milieus, zur Benachteiligung werden kann? Wenn ja, woran kann das liegen?
Aladin El-Mafaalani: Homeschooling hat für alle Schülerinnen und Schüler eine große Umstellung bedeutet. Wie gut Fernunterricht tatsächlich funktioniert, hängt sehr stark davon ab, wie die Lebenssituation der Kinder zu Hause aussieht. Können die Eltern beim Lernen unterstützen? Gibt es guten Zugang zum Internet und zu digitalen Tools? Ist eine geeignete und ausreichend ruhige Lernatmosphäre gegeben? Außerdem müssen die Kinder damit klarkommen, deutlich weniger Kontakt zu Mitschülerinnen und Mitschülern und Lehrkräften zu haben. Leistungsschwächere Kinder und Jugendliche haben natürlich umso größere Probleme, wenn sie auf sich allein gestellt sind.
Werden Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Bildungswesen in der Corona-Kriese besonders deutlich? Welche Lehren kann man aus der Situation ziehen?
Aladin El-Mafaalani: An der Bildungssituation in Deutschland gibt es immer viel Kritik. Als Homeschooling auf der Tagesordnung stand und Kinder zu Hause lernen mussten, wird die Arbeit in den Bildungseinrichtungen hoffentlich wieder mehr gewertschätzt. Nicht nur Bildungswissenschaftler:innen erkennen jetzt sehr deutlich, dass das Risiko von Ungleichheit und Ungerechtigkeit steigt, wenn kein regulärer Unterricht stattfindet. Nicht zuletzt in meinem Buch „Mythos Bildung“ habe ich versucht, deutlich zu machen, dass Ungleichheit nicht primär in den Schulen entsteht, sondern aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen resultiert. In Deutschland werden Menschen nie wieder so gleich behandelt wie in der Schule. Man kann den Schulen vielleicht vorwerfen, dass sie Ungleichheit nicht in dem Maße bekämpfen, wie man es sich wünschen würde, aber die Ungleichheit zwischen den Kindern entsteht nicht ursächlich in der Schule, sondern außerhalb.
Wie kann man die Ungerechtigkeit ausgleichen?
Aladin El-Mafaalani: Ich lege den Fokus nicht primär auf die Strukturebene, also auf das mehrgliedrige und damit selektive Schulsystem, und auch nicht auf den Unterricht und die Lehrkräfte. Neben den Lehrkräften bedarf es ausgebildetes Personal, das sich im Ganztagsbereich mit den Kindern beschäftigt und Ungleichheiten außerhalb des Unterrichtes in den Blick nimmt. Aktuell sehe ich Deutschland dafür in einer guten Situation: Die Ganztagsschulen wurden bereits ausgebaut, und es gibt sehr viele Vereine, die gerade das Problem haben, Nachwuchs zu finden. Es fehlt an Zuwachs, weil die Kinder mittelmäßig betreut in den Ganztagsschulen sitzen. Die Vereine würden gerne in die Schulen kommen, das Problem ist, dass die Infrastruktur dafür nicht vorhanden ist. Von den Schulleitern kann jedoch nicht erwartet werden, dass diese allein ein umfassendes und abwechslungsreiches Nachmittagsangebot mit Externen koordinieren, dafür wird zusätzliches Personal benötigt, multiprofessionelle Teams. Hinzu kommt, dass der Schulbau nicht den benötigten Anforderungen entspricht. Es gibt noch viel zu tun, aber die Fachkräfte wären da. Es muss nur eine Zusammenführung stattfinden. Die Kunst-, Sport- und Kulturangebote sind da, die größte Herausforderung ist also die Umorganisation.
Wie schätzen Sie als Soziologe die zwischenzeitliche Isolation während des Shutdowns und den fehlenden Kontakt zu Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrkräften ein? Welche Folgen könnten die fehlenden sozialen Kontakte haben?
Aladin El-Mafaalani: Gerade Kinder die in Armut aufwachsen vermissen die Schule, auch schon in den Ferien. Was viel verheerender ist als Bildungsungleichheit, ist das Problem von Kindeswohlgefährdung. Missbrauch wird selten von Nachbarn oder anderen Beobachtern gemeldet. Ganz wesentlich kommen Hinweise dieser Art von Erzieherinnen und Erziehern in der Kita oder von Lehrkräften in der Schule. Wir reden hier nicht von 100 oder 1.000 Fällen, sondern 50.000 bis 100.000 Fällen im Jahr in Deutschland, in denen das Kindeswohl akut gefährdet ist. Von Vernachlässigung und Verwahrlosung bis hin zu körperlichem und sexuellem Missbrauch ist leider alles dabei. Bei eingeschränktem Kontakt fallen solche Fälle natürlich weniger auf. Ungeklärt ist, ob die Fallzahlen in einer Krisensituation zunehmen. Es kann davon ausgegangen werden, dass z.B. bei psychisch- oder suchtkranken Eltern das Aggressionspotenzial in angespannten Situationen steigt. Allgemein kann andererseits beobachtet werden, dass zumindest zeitweise solidarische Strukturen im Krisenmodus etwas stärker werden.
Die Bildungslotterie unterstützt in der Corona-Krise vor allem kleinere Bildungsorganisationen mit einer Soforthilfe. Als wie wichtig empfinden Sie diese finanzielle Unterstützung?
Aladin El-Mafaalani: Es wäre natürlich schlimm, wenn gute Initiativen den Betrieb aufgrund der Corona-Krise einstellen müssten. Da ist es wichtig, finanziell zu unterstützen. Die zentrale Infrastruktur beim Thema Bildung muss Staatssache sein, darüber hinaus ist es aber wichtig, dass es Projekte gibt, die neue Ideen und Innovationen in der Bildungslandschaft vorantreiben oder individuelle Potenziale fördern. Es wäre natürlich von Vorteil, wenn Maßnahmen, die sich in Projekten bewährt haben, auch vom Staat übernommen werden. Denn erst dann können Menschen flächendeckend davon profitieren.
Haben Sie als Sohn syrischer Einwanderer Ungleichheit im Bildungsbereich selbst erlebt?
Aladin El-Mafaalani: Meine Eltern sind aus Syrien gekommen, ich bin in Deutschland geboren. Ich selbst habe tatsächlich vergleichsweise wenig Ungerechtigkeit erleben müssen. Ich bin privilegiert aufgewachsen, meine Eltern haben beide studiert. Allerdings gab es bei Mitschülern in der Grundschule – spannenderweise überwiegend ohne Migrationshintergrund –, die meines Erachtens mindestens genauso talentiert waren wie ich, ungleiche Chancenverteilung. Je älter wir wurden, desto weiter entwickelten sich die Lebensläufe auseinander. Wenn man von Bildungschancen spricht, hat der Migrationshintergrund kaum einen statistisch messbaren Effekt, sondern viel mehr die soziale Herkunft und das Bildungsniveau der Eltern.
Andere Länder wie Dänemark, Norwegen oder Finnland zeigen, dass eine stärkere Entkoppelung vom sozialen Hintergrund des Kindes und dem Bildungsweg möglich ist bei gleichzeitigen hohen Kompetenzen insgesamt. Woran liegt das und was kann Deutschland daraus lernen und ändern?
Aladin El-Mafaalani: Viele führen die positiven Entwicklungen in Skandinavien auf das Einheitsschulsystem zurück, das viel später selektiert. Für mich ist viel entscheidender, dass wir in Deutschland in den Schulen fast ausschließlich ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer beschäftigen und damit stark vom skandinavischen System abweichen. Ich frage mich, warum nicht gesehen wird, dass in Skandinavien mit multiprofessionellen Teams umfassender gearbeitet wird. Von Musik- und Sportangeboten bis hin zu Kursen, die sich mit Ernährung und allgemein mit Gesundheit beschäftigen. Es gibt dadurch ein hohes Potenzial, präventiv und fördernd zu wirken. Denn Lehrkräfte alleine können nicht alle Herausforderung meistern, die sich neben dem Unterricht ergeben. Das deutsche Schulsystem grundlegend zu ändern, bevor wir robuste Ganztagsschulen mit multiprofessionellen Teams haben, die gut ausgestattet sind, hat keinen Sinn. Die Reihenfolge ist hier ganz entscheidend. Wenn man die Herausforderung jetzt annimmt, dauert es bestimmt noch zehn Jahre, bis alle Schulen umgestellt sind. Erst dann kann man überlegen, das Schulsystem als Ganzes zu ändern. Der Ausbau der Kitas und der Ganztagsschulen ist extrem beeindruckend. Jetzt muss man zehn Jahre intensiv daran arbeiten, diesen quantitativen Ausbau mit einer entsprechenden Qualität durch die Einstellung von Psychologen, Sozialarbeitern und Kunst- und Kulturpädagogen zu ergänzen. Mittlerweile ist eine Sensibilität für die Notwendigkeit entstanden, hier etwas zu unternehmen. Auch Lehrkräfte und Eltern sind heute einverstanden. Das war vor einigen Jahren noch nicht der Fall. Denn ein qualitativ hochwertiges Angebot am Nachmittag vertreibt vor allem bei Eltern aus dem Bildungsbürgertum das schlechte Gewissen, die Kinder bis zum Nachmittag in der Schule betreuen zu lassen, um selbst Karriere zu machen. Arme und reiche Eltern – hier kann man von einem historischen Einzelfall sprechen – haben ganz ähnliche Bedürfnisse. Und im Übrigen würden Lehrkräfte dieser Entwicklung nicht mehr im Wege stehen – anders als noch vor einigen Jahren. Es fehlt im Prinzip nur noch eine starke Initiative, die den Entwicklungsprozess an den Schulen anstößt und langfristig begleitet.